Kapitel 1: Vorgeschichte

Lange bevor alles anfing

Es muss im Frühling 1985 gewesen sein. Wenige Monate vorher hatte ich am Otto-Suhr-Institut mein Diplom als Politikwissenschaftler hinter mich gebracht, als mir eines Tages in Friedenau, wo ich damals wohnte, Juergen Vetter über den Weg lief. Wir kannten uns schon ziemlich lange. Er war Gründer einer ganzen Reihe von Medien in Berlin, Galerist und Verleger. Er erzählte mir, dass es demnächst ein neues Projekt geben werde, zu dessen Gründern er gehörte: ein Radioprogramm, das im Berliner Kabel senden würde. Der Sender hatte den sehr generischen Namen „Hör 1“. Mit von der Partie waren schon damals die Audionauten HP Kuhn und Johannes Schmölling und Eldoradio, das lesbischschwule Radioprojekt.

Mit Juergen entwickelte ich Ideen für einen kulturpolitischen und literarischen Sendeplatz, den wir Tagtraum nannten. Am 28. August ging Hör 1 auf Sendung. Wir hatten beide ein Faible für das alte Dampfradio, also auch ein Ohr für gute Stimmen und schon bald hatten wir mit Hubertus Bengsch, Uwe Müller und Maren Kroymann ganz formidable Stimmen für unseren kleinen Kabelsendeplatz gefunden.

Wir hatten inzwischen im Kabel einige Sachen ausprobiert und wussten, wo wir hinwollten, als knapp ein Jahr später die erste terrestrische Frequenz für ein privates Hörfunkprogramm ausgeschrieben wurde. Das war der Beginn einer leider nicht ganz langen Radiogeschichte, die im März 1987 auf Sendung ging und im Februar 1991 damit aufhörte.

Fast 30 Jahre später

2015 gründete ich bei Facebook die Gruppe Radio 100 Jubiläum 2017 – Das Festkomitee und sammelte schnell einige Leute, die entweder selber bei Radio 100 Programm gemacht hatten oder aber zu unserem Publikum gehörten und auch fast 28 Jahre später noch nicht vergessen hatten, was das da für Töne gegeben hatte. Im Frühjahr 2016 stellte ich zusammen mit Volker Grassmuck einen Förderantrag an den Hauptstadtkulturfonds, der im Juli abgelehnt wurde. Wir hörten aber, dass wir bei einem bescheideneren Budgetentwurf mit einer Förderung rechnen könnten. Das geschah dann auch ein halbes Jahr später. Damit nahm auch dieses Projekt seinen Lauf, das ich selbst übernehmen wollte: eine Ausstellung, die einen Eindruck von der Geschichte des Programms, seiner Redaktionen und ihres Umfeldes vermitteln sollte.

Was war Westberlin in den 80er Jahren für eine Insel hinter den Winden! Sehr unterschiedliche Welten lebten dort sorgsam gegeneinander abgeschottet zwischen Lübars und Lichterfelde, zwischen Kreuzberg und Dahlem. Die Ausländerbeauftragte Barbara John hatte schon 1983 vorhergesagt, dass die Spaltung Berlins eines nicht mehr fernen Tages nicht mehr zwischen dem Osten und dem Westen, sondern zwischen Kreuzberg und Zehlendorf verlaufen würde.

In diese Welt kam mit der Sendelizenz für Radio 100 etwas Unvorhergesehenes. Manchen fielen die Ohren ab, andere machten sie wieder auf. Warum war das so? Wie kam es dazu? Welche Spuren des Radioprogramms haben Geschichte geschrieben? Wo sehen die Gründer/Innen von damals heute die Früchte ihrer Arbeit? Natürlich spielte dabei Brechts Radio-Theorie eine Rolle und die heute, anders als damals, fast kostenfrei verfügbare Technik, die jeden Menschen in einen Radiosender verwandeln kann.

Wir machen eine Zeitreise in die 80er Jahre, schauen uns an, was andere Medien in diesem Jahrzehnt getitelt haben und welche Tonspur die Leidwörter (sic!) der 80er Jahre (es spricht Wolfram Haack) in unserem Programm fanden.

Radio 100 hat Zeit- und Mediengeschichte geschrieben. Als im März 1987 Radio 100 zu senden begann, lauteten fast alle Wetten: Das geht nicht lange gut. Die anfänglich auf vier Stunden (19-23 Uhr) begrenzte Sendelizenz galt derselben Frequenz, auf der Ulrich Schamonis Programm Hundert,6 wie man bei Radio 100 kurz vor 23 Uhr bemerkte, ein 18stündiges Pausenzeichen sendete.

Radio 100 verdankte seine Lizenz einer medienrechtlichen Pluralitätsidee. Durch die Teilung der Frequenz auf so unterschiedliche Programme sah der Lizenzgeber, der Berliner Kabelrat unter Vorsitz des Bundesverfassungsrichters a.D. Ernst Benda, die Pluralität des auf der Frequenz gesendeten Programms als gewährleistet an. Um 19 Uhr beendete Hundert,6 sein Programm mit der Nationalhymne, worauf Radio 100 mit dem Klang einer Klospülung antwortete.

Aber nicht nur in dieser grosso modo-Betrachtung war Radio 100 medienpolitisch und lizenzrechtlich ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Der Kabelrat hatte die miteinander konkurrierenden Bewerber um die Teilfrequenz dazu ermuntert, sich zu einer Gesellschaft zusammenzuschließen, weil jeder von ihnen allein keine Aussicht auch nur auf eine Teilfrequenz besaß. So schloss sich zusammen, was vielleicht besser auseinander geblieben wäre. Die Auflage führte in der Gruppe der Gesellschafter zu einem chronischen Streit über praktisch alles: das Programm, die Verteilung des Geldes, die Gestaltungsansprüche der Gesellschafter, die ihnen auferlegten Pflichten und damit verbundene Versäumnisse. Deshalb hier eine erste These, die es für die Ausstellung zu illustrieren gilt: Das Programm von Radio 100 kam sowohl wegen als auch trotz der es tragenden Gesellschafter zustande. Wer nur die historischen Akten läse, bekäme keine Idee von der tatsächlichen vielstimmigen Qualität des Programms.

Etwas zweites kommt hinzu: einige Sendeplätze und ihre ProgrammmacherInnen rechneten sich sozialen Bewegungen zu (Frauen, Schwule, Internationalismus, Punk uvm). Das Programm entstand weitgehend in Autonomie zu den Bewegungen, denen es sich verbunden fühlte.

Wie illustriert man diese Geschichte?

Ich unterschied dafür mehrere Erzählstränge:

  • Wir brauchen eine Idee von der politischen Landschaft der 80er Jahre (Deutschland, Europa, Welt). Welche Groß- und Kleinereignisse haben uns geprägt? (Bilderquellen: Landesbildstellen, Zeitungsarchive, Literaturgeschichte, persönliche Archive) Aus Kostengründen waren es in der Ausstellung die Titelseiten der taz vom 1. März 1987 bis zum 28. Februar 1991, die in einem Loop auf die Zeltwand im Columbia-Theater projiziert wurde.
  • Wir brauchen das vielgesichtige und vielstimmige Porträt der Leute, die das Programm gemacht haben. Quellen sind Photos von damals, O-Töne bzw. Texte zu Höhe- und Tiefpunkten zum biographischen Anstoß, den ihr Leben durch Radio 100 erfahren hat, Tondokumente der Programmplätze.
  • Im Sinne der rhizomatischen These, die dem Konzept von Volker Grassmuck und mir zugrunde lag, brauchen wir schließlich auch eine Idee, welche Spuren sich aus der damaligen Zeit von Radio 100 in der heutigen politischen und kulturellen Medienpraxis wiederfinden. (Quellen: Bilder, Töne, Websites, Podcasts)

Für die technische visuelle Umsetzung der Ausstellung ergeben sich aus diesen Vorüberlegungen mehrere Gestaltungselemente:

  • Stelltafeln mit Bildern und Texten. Ich entschied mich für Metaplan-Pinnwände, ein Instrument, mit dem ich seit 1991 zahllose Gruppenprozesse moderiert und visualisiert habe.
  • Für die vertikalen Historiker mehrere „repräsentative“ Aktenordner zum Durchblättern
  • Für die radiophonen Liebhaber Hörstationen mit Highlights aus dem Programm von Radio 100.

Der modulare Aufbau stellt auch für künftige Anlässe eine Grundlage für Vorträge und Workshops bereit. Wer will, kann das Material gerne verwenden. Alleine der Umstand, dass die Ausstellung nur zwei Tage zu sehen war, sprach dafür, sie so aufzuziehen, dass sie ein modular langes Nachleben haben wird.

In den kommenden Tagen stelle ich hier die 17 Kapitel der Ausstellung vor.