Das folgende Dokument ist ein Zeitzeugnis eigener Qualität. Es beleuchtet einen Aspekt der politischen Kultur Westberlins, der Radio 100 zum Vorteil gereichte. Zu den unterzeichnenden Unterstützern gehörten Jürgen Schitthelm (Geschäftsführer der Schaubühne), Uwe Wesel (Juraprofessor an der Freien Universität), Erika und Ulrich Gregor (die Gründer des Arsenals), Jürgen Spohn (Kinderbuchautor), Hans Neuenfels (Regisseur), Ellis Huber (Präsident der Ärztekammer Berlin), Aribert Reimann (Komponist), Klaus Bölling (Journalist und Regierungssprecher Helmut Schmidts), Jonas Geist (Professor an der Hochschule der Künste), Bernward Wember (Professor an der HdK), Dieter Schnebel (Professor an der HdK), Clara Burckner (Basis-Film Verleih) und Volker Ludwig (Grips-Theater). Die Unterstützer wurden durch Ulrich Roloff-Momin gewonnen, der damals Präsident der HdK war und später Kultursenator wurde.
Autor: Hans Hütt
Nachtflug zu Gast im Ludwig
Radio 100 Akt zwei unseres 30jährigen Jubiläums, das im März begonnen hat.
Morgen, am Dienstag, 20. Juni, werde ich um 20 Uhr in der Galerie – Bar Ludwig den 130. Geburtstag von Kurt Schwitters zum Anlass nehmen, an meine Nachtflug-Sendung zum 100. Geburtstag von 1987 zu erinnern. Wer da nicht alles mitgemacht hatte: Oskar Pastior nahm für uns eine „Suite für Kurt Suitters“ auf. Die Tödliche Doris sendete eine Schweigeminute. Wolfram Haack las mit Raspelbass Schwitters-Texte. Helmut Höge und Sabine Vogel interviewten unter Zuhilfenahme von viel Bier Thomas Kapielski, transkribierten die Aufnahme und lasen das Transkript mit nöligen Stimmen vor. „Nicht nur dass ich Schinken heiße, auch dass ich hinke, find ich Scheiße“, so etwas kam dabei heraus. Ich hatte in der Akademie der Künste gegen ein Ei von Hans Arp geklopft und den Klang mit meinem Sony Professional Walkman aufgenommen. Original Dada-Töne erklangen ebenso wie nicht ganz originale Wiederaufnahmen. Am 2. März 1988 kompilierte ich aus den vier Stunden eine Stunde und unterlegte sie mit zwei akustischen Schmutzspuren, dem damals neuen Album von Radiohead und pathologischen Herzgeräuschen.
Die Nachtflug-Reise geht am Freitag dieser Woche, am 23. Juni, ab 21 Uhr weiter mit einer langen Nacht des Nachtflugs. Alle Autorinnen und Autoren sind herzlich eingeladen, Soundbytes, Erinnerungen, Klänge und Produktionen von damals vorzustellen. Natürlich geht es dabei auch darum, die Freiheit zu ermessen, die wir mit dem eigenen Radioprogramm errungen hatten. Was findet sich davon in neuen Medienformaten des Hörfunks, im Internet und bei Podcasts wieder?
Eine Woche darauf darf ich am 30. Juni ab 21 Uhr mit freundlicher Genehmigung durch Max Goldt seinen Nachtflug vom Dezember 1987 vorstellen.
Kapitel 5: Antragsprosa und Lizenzvergabe
Im August 1986 meldet der Mediendienst Neue Medien, dass 19 Bewerber um die beiden ab 1987 zu vergebenden Radiofrequenzen konkurrierten. Seltsame Gruppen. Manche wirkten so ähnlich wie kalifornische Goldgräber des frühen 19. Jahrhunderts. Dass im armen Westberlin mit Werbung im Radio ernsthaft Geld verdient werden könnte, hoffte man zum Beispiel im reichen München, im noch reicheren Hamburg und auch in Offenburg. Elf Vollprogramm- und acht Teilprogrammanbieter sollten dem Kabelrat nun detaillierte Ideen für ihr Radioprogramm vorstellen. Zu den acht Teilprogrammanbietern gehörte auch das Andere Radio Berlin, dessen Antrag auf eine Lizenz hier nachzulesen ist. Das Konzept ist hier noch sehr vage beschrieben und setzte stark auf Bürgerbeteiligung. more „Kapitel 5: Antragsprosa und Lizenzvergabe“
Kapitel 4: Zerrüttung und Konsolidierung
Die folgenden Dokumente versammeln Protokolle der Gesellschafterversammlungen aus den Jahren 1986 und 1987. Wer in ihnen nur den Sound der Genervtheit wahrnimmt, übersieht etwas für die Organisationskultur von Radio 100 Wesentliches: Hier raufte sich zusammen, was zusammengehörte, und setzte sich auseinander, was nicht zusammenpasste. more „Kapitel 4: Zerrüttung und Konsolidierung“
Kapitel 3: Die Gesellschaft – Eigensinn schrieb Geschichte
Bevor ich das nächste Kapitel der Ausstellung aufschlage, hier ein paar Bemerkungen zur Auswahl der Exponate. Ich habe aus im wesentlichen sechs Quellen Archivalien aus der Geschichte von Radio 100 erhalten. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass dieses Material nicht vollständig war. Allerdings sind die Dokumente dazu geeignet, die diversen Textsorten von ersten Ideen über die Gründung bis hin zur Arbeit der Redaktion an Manuskripten, Sendeablaufplänen, VG Wort- und GEMA-Anmeldungen abzubilden. Sie stimmen einen Chor des Eigensinns an, der das Programm und die Geschichte des Radios charakterisiert hat. more „Kapitel 3: Die Gesellschaft – Eigensinn schrieb Geschichte“
Kapitel 2: Anfänge vor den Anfängen – Vorgeschichte
Hier folgt nun, Kapitel für Kapitel, die Ausstellung über die Geschichte von Radio 100, kommentiert und erläutert von Hans Hütt.
Das erste Dokument führt zurück zum Eiligen Abend (sic!) am 24. Dezember 1985, lange vor der Erteilung einer Frequenz zeigt mit diesem Plakat und Flyer der Radio 100-Gesellschafter „Anderes Radio Berlin“ zum ersten Mal seine Existenz an. Zwei Jahre später gab es, ebenfalls am 24. Dezember, eine audionautische Weihnachtsnacht, in der wir im Studio von Radio 100 Anrufe für Insassen der Berliner Gefängnisse entgegennahmen und ausstrahlten. In der Staatsbibliothek P.K. hatte ich ein Gesangbuch mit oberschlesischen Feuerwehrliedern gefunden, die wir à capella im Studio sangen, als Ständchen für die Weihnachtsbaumlöschbrigaden. („Wir sind gar wackre Leute, wir Männer von der Spritz, das Löschen macht uns Freude, zumal bei großer Hitz!“) Alle Anruferinnen und Anrufer konnten eigene Lieder ins Telefon singen. Im Studio nahm HP Kuhn, Uraudionaut, alles auf und mixte im Verlauf des Abends den großen Radio 100-Weihnachtssong. more „Kapitel 2: Anfänge vor den Anfängen – Vorgeschichte“
Kapitel 1: Vorgeschichte
Lange bevor alles anfing
Es muss im Frühling 1985 gewesen sein. Wenige Monate vorher hatte ich am Otto-Suhr-Institut mein Diplom als Politikwissenschaftler hinter mich gebracht, als mir eines Tages in Friedenau, wo ich damals wohnte, Juergen Vetter über den Weg lief. Wir kannten uns schon ziemlich lange. Er war Gründer einer ganzen Reihe von Medien in Berlin, Galerist und Verleger. Er erzählte mir, dass es demnächst ein neues Projekt geben werde, zu dessen Gründern er gehörte: ein Radioprogramm, das im Berliner Kabel senden würde. Der Sender hatte den sehr generischen Namen „Hör 1“. Mit von der Partie waren schon damals die Audionauten HP Kuhn und Johannes Schmölling und Eldoradio, das lesbischschwule Radioprojekt. more „Kapitel 1: Vorgeschichte“